20. Juli 2022
Für morgen ist der Abschluss der Wartungsarbeiten an der russischen Erdgaspipeline Nord Stream 1 geplant. Auch wenn das Leitungssystem danach technisch überholt ist, bedeutet dies nicht, dass wieder Gas nach Deutschland fließt. Russland hat bereits in den letzten Monaten sukzessive weniger Erdgas als vertraglich vereinbart geliefert, zuletzt noch 40 Prozent der Maximalleistung über die Nord Stream 1. Nimmt Russland die Gaslieferung auch nach der Wartung nicht wieder auf, können die Speicher nicht weiter befüllt werden. In den Monaten Januar und Februar käme es zu einer Versorgungslücke. Nach derzeitiger Rechtslage muss der Gasmangel durch Liefereinschränkungen bei nicht-geschützten Kunden kompensiert werden. Zunächst müssen die Gaskraftwerke abgeschaltet werden, und Industriekunden bekämen weniger Gas.
Prof. Dr. Gerald Linke betont: „Selbst wenn nun gar kein russisches Gas mehr fließt, müssen die rund 19 Millionen Heizungskunden in Deutschland in ihren Wohnungen nicht frieren. Sie zählen zu den sogenannten geschützten Kunden und werden ähnlich wie Wärmekraftwerke, soziale Einrichtungen sowie Gewerbe- und Dienstleistungsunternehmen mit einer begrenzten Jahresentnahme auch den kompletten Winter über beliefert. Dies gibt der europäische Rechtsrahmen vor und ist im deutschen Energiewirtschaftsgesetz verankert.“
Linke weiter: „Zwar ist für die Endverbraucher in jedem Fall genug Gas verfügbar. Dennoch begrüßen wir die von EU-Kommission und Bundesregierung vorgeschlagenen Einspar-Maßnahmen. Durch Absenken der Raumtemperatur, einen sorgsamen Umgang mit warmem Wasser sowie eine optimalen Einstellung der Heizungsanlage durch Fachleute, kann der Gasverbrauch signifikant reduziert werden. Als vollkommen falsch und fehlgerichtet stufen wir Entwicklungen ein, mit elektrischen Heizstrahlern überwintern zu wollen, denn mit Strom zu heizen ist teuer und kann zu Überlastungen des System führen. Mit Wärmebedarfsspitzen kann das Gasnetz viel besser umgehen, denn dafür ist es ausgelegt. Es liefert an kalten Wintertagen die dreifache Energiemenge wie das Stromnetz.“
Deutschland verbraucht rund 1.000 Terawattstunden Gas pro Jahr; ungefähr 30 Prozent davon werden für das Heizen benötigt, knapp 40 Prozent nutzt die Industrie. Um Bedarfslücken beim Ausbleiben von Mengen aus Russland zu schließen, wird es weiterhin zu einer erhöhten Einspeisung aus Norwegen, Belgien und den Niederlanden kommen müssen. Auch die Anbindung der schwimmenden LNG-Terminals in Wilhelmshaven und Brunsbüttel werden für Entlastung sorgen. Hierzu müssen die technischen Kapazitäten des deutschen Leitungssystems ertüchtigt werden, was durch die Branche bereits im Netzentwicklungsplan mitgedacht wurde.
Fließt nach der Wartung von Nord Stream 1 wieder russisches Gas, ist die Versorgungssituation wesentlich entspannter. “Es bleibt aber gerade dann die Aufgabe der Politik und der Versorgungswirtschaft, die Abhängigkeit von russischem Erdgas so schnell wie möglich zu beenden. Dazu gehört neben der Diversifizierung der Lieferländer auch ein breiteres Portfolio an Energieträgern. Die LNG-Terminals sind ein erster wichtiger Schritt. Wir müssen aber auch umgehend weitere Maßnahmen ergreifen, um klimaneutrale Alternativen zu Erdgas in den Markt zu bringen. Ein schneller Ausbau der heimischen Kapazitäten von klimaneutralem Wasserstoff und Biomethan ist jetzt vordringlich“, erklärt Linke. Biomethan-Anlagen seien bereits in der Warteschleife und müssten nun dringend angebunden werden. Hürden, die einem Anschluss und Hochlauf im Weg stehen, müssen umgehend durch die Politik beseitigt werden.
Den Beweis, dass gerade der Wärmemarkt mit Biomethan und Wasserstoff dekarbonisiert werden kann, und dies zeitnah und zu vergleichsweise geringen Kosten, haben wissenschaftliche Studien und Feldtest längst erbracht. Nun komme es darauf an, dass die Politik technologie-offen diesen Systemen den Markteintritt ermöglicht. Einseitig auf Wärmepumpen zu setzen und Gasheizungen pauschal zu verbieten, hieße, signifikantes Klimaschutzpotenzial zu verschenken und die Energiewende sehenden Auges in eine Sackgasse zu steuern, mahnt Gerald Linke. Insofern sei das jetzt veröffentlichte Eckpunktepapier des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz, Hauseigentümern auch mit Grüngasheizungen das Erreichen des 65-Prozent-Erneuerbare-Ziel zu ermöglichen, prinzipiell richtig. Allerdings müssen bei seiner Umsetzung die sozialen Folgen mitgedacht werden, wenn der Grüngashochlauf nicht klares politisches Backing bekäme. An einem schnellen Wasserstoff-Hochlauf führt kein Weg vorbei, wenn die Kosten für die Bürger:innen tragbar bleiben sollen. Wird er beschritten, dann hätte die Privatkunden in Deutschland die Option, mit günstigen H2-ready Heizungssystemen – preislich wie Erdgasgeräte angesiedelt - auch sozialverträglich ihr Eigenheim oder die Mietwohnung zu heizen, und zwar unabhängig vom Gebäude- und Renovierungszustand.